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Von Tür zu Tür in eine andere Welt

Ich heiße Sebastian und bin neu beim MD Bremen. Es ist Winter 2023 und als neuer Mitarbeiter des Medizinischen Dienstes hospitiere ich im Alltag meiner neuen Kolleginnen und Kollegen. Heute bin ich am frühen Morgen mit Susanne unterwegs. Susanne ist Pflegefachkraft und seit 2018 im Auftrag der Krankenkassen und Versicherten in Bremen und Bremerhaven unterwegs. An diesem Tag treffen wir uns in der Bremer Neustadt.

Ich werde sie in den nächsten gut vier Stunden bei drei Hausbesuchen begleiten. Mir ist etwas unwohl bei dem Gedanken daran, mich in ein fremdes Wohnzimmer zu setzen. Wie sieht es wohl bei Menschen aus, die einen Pflegegrad beantragt haben und nun für die Erstellung eines Gutachtens zu Hause besucht werden? Zwar habe ich einen Vater, dem auch ein Pflegegrad zugesprochen wurde, aber damals war seine Lebensgefährtin bei der Begutachtung an seiner Seite. Ich habe also keine Ahnung, was auf mich zukommt.

Es geht los

Wir stehen vor einem Haus. Es ist unscheinbar, vielleicht leben hier sechs Parteien, denke ich. Wir klingeln. Herr Lange* meldet sich über die Gegensprechanlage – erfreut klingt er nicht. Susanne und ich gehen in den dritten Stock und mir fällt direkt die Erfahrung meiner Kollegin auf. Sie ist freundlich, klar und deutlich in der Sprache und wäre ich Herr Lange, hätte ich sofort ein gutes Gefühl bei dieser Person, die jetzt als personifiziertes Gesundheitswesen vor mir steht. Herr Lange wirkt trotzdem angespannt und ich merke, wie schleppend seine Bewegungen sind. Susanne stellt mich kurz vor und fragt, ob es für Herrn Lange in Ordnung wäre, dass ich der Begutachtung beiwohne. Herr Lange hat damit kein Problem. Ich bedanke mich.

Wir betreten die Wohnung und mir wird sofort klar: Hier lebt ein starker Raucher, der nicht viel Sinn für Ordnung und Sauberkeit hegt. Aber was geht mich das schon an, denke ich mir und folge den beiden ins Wohnzimmer. Dort sieht es für mein Empfinden schlimm aus. Es ist viel zu dunkel, in der Ecke steht ein Terrarium, das unbewohnt erscheint, zumindest hoffe ich das. Auf dem Boden in der Ecke liegt ein Fuchsschwanz oder ein ausgestopftes Wiesel, so genau kann ich es nicht erkennen. Das gesamte Sofa ist von einer dicken Staubschicht und großflächig von Hautschuppen bedeckt. Der Fernseher läuft und ist auf stumm gestellt. Ich sehe das Morgenmagazin. Als ich mich setzen will, fragt Susanne mich, ob ich ein Handtuch haben möchte – zum Unterlegen. Ich verneine, sie richtet sich ihren Platz ein, wir setzen uns und sie öffnet den Laptop.

In den folgenden gut 45 Minuten gehen wir ca. 50 Fragen durch. Es geht um die Mobilität von Herrn Lange, um seine jüngere Krankengeschichte, um mögliche Hilfsmittel und vieles mehr. Er wird immer ruhiger und fasst Vertrauen zu meiner Kollegin. Allerdings scheint er ein Thema nicht zu mögen: Ärzte – als wir auf seine unübersehbare Neurodermitis zu sprechen kommen, entgegnet er leicht aggressiv, dass er „austherapiert“ sei. Er vertraue keinen Ärzten mehr, sie seien nie wirklich an einer Linderung seiner Symptome interessiert gewesen. Susanne fragt ihn, ob er eine Crème nutzt. Auch das vereint er und mir dämmert, wie furchtbar es sein muss, unter dieser Erkrankung zu leiden und selbstbestimmt keine ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen zu wollen. Auch wenn ich es nicht zulassen möchte, der Mann tut mir ein wenig leid und ich frage mich, was passiert sein muss, dass er die Welt so wahrnimmt, wie er sie wahrnimmt. Wenig später habe ich die vermutliche Antwort auf meine Frage: Sein Lebensgefährte verstarb vor knapp drei Jahren. Er habe ihn bis zu seinem Tod gepflegt und fühlte sich oft alleingelassen von öffentlichen Stellen, von Ärzten und Bekannten. Immerhin habe er einen Freund, der ihm bei Dingen, wie dem Einkauf helfe. Ich merke, wie Susanne versucht, Herrn Lange zu erklären, dass ihm externe Unterstützung helfen kann. Das könne eine Putzhilfe sein oder auch ein Haltegriff an der Toilette, um besser aufstehen zu können. Und er solle sich unbedingt um eine Crème bemühen. Nach einem Rundgang durch die Wohnung verabschieden sich Susanne und ich. Herr Langer bedankt sich für den freundlichen Besuch und ich hoffe innerlich, dass ihm ein möglicher Pflegegrad und die damit einhergehenden Leistungsmöglichkeiten helfen können.

Der zweite Termin

Susanne und ich schwingen uns aufs Rad. Ich merke, dass auch sie etwas nachdenklich ist. Derartige Umstände kämen vor, aber sie seien nicht die Regel. Auch seien die meisten Versicherten immer freundlich. Mir wird klar: Diese Besuche finden eigentlich ausschließlich alleine statt. Susanne sitzt nicht selten mehreren Personen gegenüber. Bedrohliche Situationen habe sie noch nicht erlebt und ich freue mich über diese Aussage, denn ich hätte vermutet, dass sie häufiger in kritische Situationen gerät. Aber dem sei nicht so und das ist gut zu hören und ich hoffe, dass es so bleibt.

Nach zehn Minuten Fahrt stehen wir vor dem nächsten Haus, schließen die Räder zusammen und drücken auf die Klingel. Dieses Mal geht es in die vierte Etage, ein Mann, vielleicht Mitte 70 öffnet die Tür und bittet uns freundlich rein. Bei ihm sieht es aus wie bei meinen Großeltern früher: viele Deckchen unter Dingen auf Tischen, eine Schrankwand „Eiche rustikal“ und außerdem liegt ein Geruch von frisch gebrühtem Kaffee in der Luft. Herr Mau* fragt uns, ob wir auch einen Kaffee wollen. Ich verneine, Susanne auch. Was folgt, kenne ich ja schon. Wir schauen u. a. in das Bad und sprechen über die Gesamtsituation von Herrn Mau. Dabei erwähnt er immer wieder seine Frau. Dieser ginge es oft nicht so gut, aber sie kümmere sich gut um ihn. Da er Fragen nach der Aufbereitung seiner Medikamente nicht beantworten kann, ruft er sie. Die Tür des Schlafzimmers geht auf und vor uns steht eine vielleicht 50 Jahre alte Frau. Es stellt sich heraus, dass sie sehr bewandert in der Medikamentengabe ihres Mannes ist und das freut mich für Herrn Mau. Susanne hat noch zwei weitere Termine, aber ich nehme nur noch den nächsten mit ihr gemeinsam wahr.

Das dritte Gutachten – ein neuer Stadtteil

Wir sind in einem typischen Bremer Altbau in Schwachhausen. Das Ehepaar wirkt eher unglücklich. Ihr Mann, so erzählt Frau Bartels*, war früher im Hafen beschäftigt. Jetzt leide er unter COPD (Hinweis: COPD steht für chronisch obstruktive Lungenerkrankung – die Lunge ist dabei dauerhaft geschädigt und die Atemwege sind verengt), jeder Schritt fiele ihm schwer. Vor zwei Jahren schon sei er in das Erdgeschoss gezogen, damit er wenig bis gar nicht mehr die Treppe nutzen müsse. Für das Bad einmal in der Woche sei das aber noch immer noch nötig. Neben der Beantwortung der bekannten Fragen schauen wir uns das Bad an. Beide fragen sich, ob möglicherweise eine Bezuschussung des Badumbaus durch die Pflegekasse möglich sein könnte. Ich wünsche es den beiden. Gleichzeitig weiß ich, dass wir das nicht entscheiden. Wir halten uns an Richtlinien. Wir erstellen ein Gutachten auf Basis des SGB XI. Die finale Entscheidung liegt bei der Pflegeversicherung.

Wunsch und Auftrag

Gut anderthalb Jahre später denke ich nicht mehr an die drei Begutachtungen. Aber jetzt, da ich in meinen Erinnerungen krame, um die Erfahrungen zu teilen, wünsche ich mir, dass Herr Langer nochmal Mut und Energie gefunden hat. Ich hoffe, dass es dem Ehepaar Mau gut geht. Ich wünsche mir, dass die Bartels noch immer in ihrem Haus wohnen, ihre Tochter sie regelmäßig besucht und dass sich sein Gesundheitszustand nicht rapide verschlechtert hat. Aber: hier geht es um das Große und Ganze. Viele von uns werden in ähnliche Situationen kommen oder sind bereits mittendrin. Und darum macht der MD seine Arbeit im Sinne aller Versicherten. Hier sind wir auf Kurs.

*Name wurde geändert.

Über die Person

Susanne Kupitz

Susanne ist von Beruf Pflegefachkraft und arbeitet seit 2018 für den Medizinischen Dienst. Für die Hausbesuche schwingt sie sich auf ihr Rad und fährt von Haus zu Haus. Immer dabei: ihr Laptop sowie geeignete Regenkleidung für den Schauer zwischendurch.

Pflegebedürftigkeit

Was steckt dahinter?

Wenn Menschen pflegebedürftig werden und ihre Selbstständigkeit oder Fähigkeiten stark eingeschränkt sind, brauchen sie die Unterstützung anderer. Das kann für sie selbst und ihre Zu- und Angehörigen sehr belastend sein. Die Pflegeversicherung soll ihnen helfen, trotz der benötigten Hilfe ein möglichst selbstbestimmtes und würdiges Leben zu führen (§ 2 (1) SGB XI).

Im Video

Bewegte Einblicke in den Alttag beim MD Bremen